In Bremen sind 95 Prozent der Erwachsenen geimpft - wie der Stadtstaat Deutschlands Impfmeister wurde Bremen ist das ärmste Bundesland Deutschlands, Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind weit verbreitet. Doch beim Impfen liegen die Bremer vorne. Wie konnte das gelingen? Ein Augenschein.

Rewert Hoffer, Bremen 30.12.2021, 05.30 Uhr

Anmerkung
Ein interessanter Artikel!
Er hat mich veranlasst, die Corona-Inzidenzen (von Bremen und Chemnitz) und die Krankenhaus-Inzidenzen in der Republik, seit Januar zu verfolgen.
Welche Auswirkungen hat diese fast vollständige Impfquote? Wenn alle Argumente stimmen, so müsste sich ja ein deutlicher Unterschied zu den Schlusslichtern der Impfquote ergeben.
Ehrlich gesagt: Das Ergebnis hat mich schon etwas geschockt.

Kurz vor Weihnachten veranstaltete die Bremer Regierung gemeinsam mit Unternehmen eine Disco-Impfaktion für 12- bis 17-Jährige im neuen Impfzentrum.

Wäre Bremen ein Mensch, dann wäre es eine Frau im mittleren Alter und hoch verschuldet, die mit einiger Wahrscheinlichkeit keine deutschen Wurzeln hat. Außerdem wäre dieser Mensch geimpft. Denn das sind in Bremen so gut wie alle Erwachsenen. Das kleinste Bundesland hat die höchste Impfquote Deutschlands: Offiziell sind über 95 Prozent der Erwachsenen und knapp 83 Prozent der Gesamtbevölkerung doppelt geimpft.

Bremen hat Deutschlands höchste Impfquote

Anteil der vollständig Geimpften sowie "Booster"-Quote

Land2. Dosis3. Dosis
Deutschland7137,3
Bremen82,938,2
Saarland77,244,2
Hamburg76,831,6
Schleswig-Holstein75,339,1
Nordrhein-Westfalen74,140,1
Niedersachsen72,640,5
Berlin71,637,5
Rheinland-Pfalz70,238,4
Hessen69,833,6
Bayern69,836,9
Baden-Württemberg69,438,1
Mecklenburg-Vorpommern69,433,8
Sachsen-Anhalt67,732,4
Thüringen65,232,3
Brandenburg64,331,5
Sachsen60,329,4
Stand: 29.12.2021
Quelle: RKI
NZZ / rew.

Gleichzeitig ist Bremen neben Berlin das vielleicht dysfunktionalste Bundesland. Regelmäßig führt es die Negativ-Ranglisten der Bundesrepublik an: höchste Arbeitslosigkeit, höchster Armutsanteil, schlechte Schulen und ein Schuldenstand, der den des 20-mal größeren Bayern übersteigt. Obwohl vieles in Bremen nicht funktioniert, führt es Deutschland beim Impfen an.

Bremen impft so gut wie kein anderes Bundesland, weil es der Stadtstaat geschafft hat, ungewöhnliche Allianzen zu schmieden: Allianzen zwischen einem Milliardär und einer Sozialistin, zwischen der Verwaltung und Menschen vor Ort, die jeden Grund hätten, der Politik zu misstrauen. Die Erfahrungen in Bremen zeigen, wie auch jetzt noch mehr Menschen geimpft werden könnten - ohne Impfpflicht.

Impfen im sozialen Brennpunkt

Bremen-Vegesack liegt 20 Zugminuten vom Stadtzentrum entfernt. Hier sind Armut und Clan-Kriminalität besonders präsent, die Industrie ist schon lange weggezogen. In Vegesack sucht man die hanseatischen Backsteinhäuser aus der Innenstadt vergebens, vielmehr dominieren Hochhaussiedlungen wie die Grohner Düne.

Die Hochhaussiedlung Grohner Düne in Bremen-Vegensack ist ein sozialer Brennpunkt. Trotzdem ist die große Mehrheit der Bewohner geimpft.

In der "Düne" wohnen 1700 Menschen, knapp 90 Prozent mit Migrationshintergrund. Schon seit den 1980er Jahren gilt das Wohngebiet als "Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf", wie es die Landesregierung ausdrückt. Es wäre nicht überraschend gewesen, wenn die Bewohner dem Impfangebot einer Regierung, die sie so lange vergessen hat, ablehnend begegnet wären.

Doch auch in Vegesack sind etwa 90 Prozent der Erwachsenen geimpft, wie das Büro der Bremer Gesundheitssenatorin mitteilt. Direkt vor dem Hochhauskomplex steht wenige Tage vor Weihnachten der Bremer Impftruck, ein Sattelschlepper, in dem am Tag etwa 350 Impfungen verabreicht werden können.

Verschwörungstheorien mit Geduld begegnen

Vor Ort ist auch Lirije Cesmedi. Die Sozialarbeiterin stammt ursprünglich aus Kosovo und spricht laut eigenen Angaben neun Sprachen. Sie arbeitet seit Mai daran, Menschen in Vegesack von der Impfung zu überzeugen.

Heute ist Cesmedi unruhig. Sie wartet auf eine serbische Familie. In den vergangenen Wochen war sie mehrmals bei ihnen zu Hause und hat ihnen erklärt, dass keine Unfruchtbarkeit drohe, wenn sie sich impfen ließen. Jetzt hat der Familienvater ihr eine Nachricht geschrieben: Er wolle sich nun impfen lassen.

Eine Stunde später erscheint der Serbe, der anonym bleiben möchte. Seine Familie hat er nicht mitgebracht. Angeblich haben sie ihre Krankenkassenkarten vergessen. Der etwa 30-jährige Mann spricht nur gebrochen Deutsch, ist arbeitslos und hat eine Tochter. Er habe auch jetzt, nach der Impfung, immer noch Angst: Angst, dass er nun früher sterbe, Angst vor dem Chip, den man ihm angeblich eingepflanzt habe.

Menschen wie Lirije Cesmedi sind ein integraler Teil der Bremer Impfkampagne. "Wir in Bremen haben von Anfang an auf den persönlichen Kontakt vor Ort und mehrsprachige Aufklärung gesetzt. Das ist aufwendig, aber es lohnt sich", sagt die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard. Nur durch Mundpropaganda von Mitgliedern der eigenen Community ließen sich Zweifler überzeugen, meint die Senatorin.

"Deutschlands schönstes Impfzentrum"

Wie es sich für den Vorreiter Bremen gebührt, hat es seit einigen Wochen auch "Deutschlands schönstes Impfzentrum". Anfang Dezember öffnete das neue Impfzentrum am Brill im ehemaligen Gebäude der Sparkasse. Eingerahmt von Stuck und Kronleuchtern sollen hier einmal bis zu 5000 Dosen pro Tag verimpft werden. In der Vorweihnachtszeit ließen sich täglich bis zu 3300 Bremerinnen und Bremer in der alten Sparkasse impfen.

Bremen verimpft mehr als im Bundesschnitt

Das ästhetische Urteil über das Impfzentrum hat der milliardenschwere Unternehmer Kurt Zech gefällt. Zech leitet ein Imperium, das aus über 350 Einzelunternehmen besteht. Er ist Bauunternehmer, größter deutscher Immobilienentwickler, Reeder und Hotelier. Ohne ihn hätte es weder das neue Impfzentrum noch eine so erfolgreiche Impfkampagne gegeben.

Kurt Zech empfängt im siebten Stock seiner Unternehmenszentrale in Bremen. "Als ich gehört habe, dass die Stadt nur 1000 bis 1500 Impfungen am Tag plant, habe ich mir gesagt: Das geht gar nicht." Zech legte ein Konzept vor, dass es dem Land erlaubt hätte, bis zu 15.000 Impfungen in den Bremer Messehallen durchzuführen. Mit seiner Unterstützung wurde das Impfzentrum außerdem von einer auf vier Hallen erweitert. Anfang Mai impfte Bremen knapp 10.000 Menschen an einem Tag.

Unternehmer ermöglichen Massenimpfungen

Das Personal aus Zechs geschlossenen Hotels arbeitete im Callcenter und als Lotsen im Impfzentrum, ebenso wie Mitarbeiter aus der Eventbranche. Außerdem nahm Zech eigenes Geld in die Hand, stellte Computer bereit und kaufte 90.000 Spritzen. Eine "sechsstellige Summe" habe er für die Bremer Impfkampagne aufgebracht.

Als das alte Impfzentrum wie viele andere Impfzentren in Deutschland Ende September geschlossen wurde, benötigte die Stadt kurze Zeit später einen neuen Standort. Wieder war Zech zur Stelle. Er kennt die Eigentümer und die Verwalterin des ehemaligen Sparkassengebäudes gut. Innerhalb eines Tages lag die schriftliche Genehmigung vor, dass die Stadt dort mietfrei ein neues Impfzentrum betreiben könnte. Kurz darauf baute Zech zusammen mit der Bremer Event-Agentur Joke Event AG das Zentrum innert zwei Tagen auf.

"Wir in der Privatwirtschaft haben ganz andere Möglichkeiten als die Verwaltung: Wir organisieren hauptberuflich Großveranstaltungen und haben innerhalb kürzester Zeit eine dreistellige Anzahl von gut ausgebildeten Menschen zur Verfügung", sagt Zech. Durch die Kooperation mit der Wirtschaft gab es keine Warteschlangen in den Hotlines, die Software zur Terminbuchung funktionierte einwandfrei, jeder kam entweder online oder telefonisch schnell zu einem Impftermin. Das bestätigt auch die Bremer Gesundheitssenatorin.

Es war die Definition einer Win-win-Situation: Zech und seine Unternehmerkollegen mussten ihre Mitarbeiter nicht in Kurzarbeit schicken, das Bundesland konnte in Rekordzeit eine hohe Anzahl Impfungen verabreichen.

Impfen nicht allein dem Staat überlassen

Dass alles so reibungslos ablaufen würde, liess sich zu Beginn nicht absehen. Bremen wird von einer rot-rot-grünen Koalition regiert, und die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard kommt von der Linkspartei. Die Linke will den "demokratischen Sozialismus" verwirklichen und gilt dementsprechend als wenig unternehmerfreundlich.

Als Zech der Senatorin seine Hilfe angeboten habe, sei die erste Reaktion zurückhaltend gewesen, erzählt er. Aber nach kurzen Anlaufschwierigkeiten habe sich die Kooperation "optimal" entwickelt. Auch Bernhard berichtet, dass es am Anfang Meinungsverschiedenheiten gegeben habe.

Doch es stellte sich schnell heraus, dass sich die Wirtschaft nicht konkurrenzierend, sondern unterstützend einbringen wollte. "Beim Impfen hatten wir eine Interessensgleichheit. Für die Unternehmen war das Impfen die beste Möglichkeit, den Lockdown zu beenden", sagt Bernhard. Jetzt schwärmen beide, der Milliardär und die Sozialistin, von der ausserordentlichen Teamleistung, die sie vollbracht haben.

Gerade zu Beginn habe die Kooperation mit der Wirtschaft zum Erfolg der Bremer Impfkampagne beigetragen. Doch allein auf die Unternehmen sei dieser nicht zurückzuführen. Damit auch jene erreicht würden, die schlecht informiert und impfskeptisch eingestellt seien, brauche es niedrigschwellige Angebote vor Ort, wie in Vegesack, sagt Bernhard.

Bremen zeigt, dass das Impfen nicht allein dem Staat überlassen werden kann. Hier haben Privatwirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft arbeitsteilig zu der hohen Impfquote beigetragen: Die Bremer Unternehmen haben geholfen, die Masse der Impfwilligen schnell und effizient zu erreichen. Die Verwaltung hat mittels mobiler Impfteams und lokaler Überzeugungsarbeit auch die Zögernden geimpft. Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz und die Johanniter haben Überstunden gemacht, um die Spritzen in die Oberarme zu bringen.

Von Bremen lernen?

Bremen ist zu einem bestimmten Grad auch ein Sonderfall. Der kleine Stadtstaat ist Kommune und Bundesland zugleich. Flächenländer stehen vor ganz anderen logistischen und organisatorischen Herausforderungen. Auch ist Bremens gemeldete Impfquote wohl aufgrund seiner geografischen Lage etwas höher als die tatsächliche Quote. Einige Menschen aus dem umliegenden Niedersachsen ließen sich in Bremen impfen. Die Abweichung betrage allerdings maximal 2 bis 3 Prozent, sagt Gesundheitssenatorin Bernhard.

Etwas lässt sich allerdings von Bremen lernen: Lokal verankerte Initiatoren mit guten Kontakten in die Wirtschaft sind wirksame Helfer, um die Mehrheit der Bevölkerung schnell durchzuimpfen. Die Verwaltung kann bei den Restlichen die Impfbereitschaft erhöhen. In Bremen musste die Regierung auch migrantische Communities von der Impfung überzeugen. Woanders könnten ja alternativ der Schützenverein oder die Kirchengemeinde zu Impfmultiplikatoren werden, meint Claudia Bernhard.

Von diesen Maßnahmen verspricht sich Bernhard mehr als von der momentan diskutierten Impfpflicht: "Ich bin tief davon überzeugt, dass eine Impfpflicht eher zu Abwehrreaktionen führen wird. Mir ist außerdem nicht klar, wie eine solche Pflicht durchgesetzt werden soll."

Auch heute noch könnte sich ein Blick auf die Gründe für Bremens Impferfolg lohnen. Es sei nie zu spät, Skeptiker zu überzeugen, denn auch Bremen verzeichne noch Erstimpfungen, sagt Bernhard. Ausserdem habe die Booster-Kampagne eines klargemacht: "Das Impfen wird uns noch einige Jahre begleiten."


Quelle: NZZ